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IMAGO/Pasquale Senatore
In Neapel protestieren Studierende gegen Giorgia Meloni, die die Wahl in Italien gewonnen hat. Rechtsextreme Parteien sind überall in Europa auf dem Vormarsch. Das sagt auch etwas über den Zustand der real existierenden Demokratie.

Horst Poldrack - nd 06.10.2022

Die Gesellschaft als Beute

Sind Wahlerfolge von rechtsradikalen Parteien wie in Italien oder Schweden Betriebsunfälle oder systembedingt?

Wenn die Demokratie im Kapitalismus erhalten und ausgebaut werden soll, muss man sie gegen Versuche verteidigen, das demokratische Format zu beherrschen und zu manipulieren.

In Italien gewinnen die Mussolini-Enkel, in Schweden die Rechtsextremisten. Der Chef von Frankreichs Rassemblement National ist begeistert: »Die Völker Europas erheben ihre Häupter und nehmen ihr Schicksal wieder in die Hand.« Und die AfD jubelt: »Schweden im Norden, Italien im Süden: Linke Regierungen sind so was gestern.«

Abgesehen davon, dass es in ganz Europa seit Jahrzehnten keine »linke Regierung« gab: Die rechtsextremen, nationalistischen Parteien und Bewegungen sind real auf dem Vormarsch, die bürgerlich-demokratischen Parteien verlieren überall ihren Einfluss. Was passiert da?

Wenn zunehmend mehr Menschen Probleme mit der real existierenden Demokratie haben, liegt es nicht daran, dass sie zu träge oder zu unwissend sind, sondern daran, dass »die Demokratie« nicht richtig funktioniert. In Anbetracht der Defizite des parlamentarischen Systems – sinkende Wahlbeteiligung und wachsende Unzufriedenheit mit den demokratisch gewählten Eliten – stellt sich sogar die Frage, ob wir es überhaupt noch mit einer echten Demokratie zu tun haben.

Die liberalen Demokratien im Westen haben sich in Marketing-Demokratien verwandelt, deren demokratisches Outfit von PR-Profis professionell inszeniert wird, während die Bedeutung des »demos« schwindet. Diese Vermarktlichung von Demokratie und Politik wird mittlerweile als normal empfunden und viele haben sich damit irgendwie arrangiert. Wir sind daran gewöhnt, dass Politiker zu Schauspielern mutieren und Schauspieler Politiker werden, dass Wahlkämpfe zu Marketingschlachten zwischen Spitzenkandidaten werden und ein Heer von PR-Experten sich bemüht, das Image der Kandidaten wie der Parteien zu polieren.

Auf diese Weise verschwinden die Inhalte und der sachliche Dialog aus der Politik. »Werbung ist keine Form des rationalen Dialogs. Sie baut keine Argumentation auf, die sich auf Beweise stützen könnte, sondern bringt ihr Produkt mit speziellen visuellen Vorstellungen in Verbindung. Auf Werbung kann man nicht antworten. Ihr Ziel ist es nicht, jemanden in eine Diskussion zu verwickeln, sondern ihn zum Kauf zu überreden«, konstatierte der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch in seinem bereits 2008 erstmals publizierten Untersuchungen zur »Postdemokratie«. Die Übernahme dieser Methoden hat den Politikern zwar dabei geholfen, sich in den Massenmedien wirkungsvoller zu präsentieren, aber »der Demokratie selbst haben sie damit jedoch einen Bärendienst erwiesen« und den Verfall der politischen Kommunikation beschleunigt.

Unter der Ägide des Neoliberalismus ist in den letzten Jahrzehnten ein System entstanden, das darauf abzielt, die Gesellschaft und den Einzelnen nach den Gesetzen der Marktlogik allumfassend zu formatieren. Das neoliberale Gesellschaftsmodell ist die Diktatur der Profitmaximierung und des Marktes. Tendenziell setzt der Neoliberalismus die Marktgesellschaft durch, indem er das Kosten-Nutzen-Kalkül auf alle Bereiche des menschlichen Verhaltens ausdehnt. Aber es geht nicht nur um den ökonomischen Totalitarismus der Marktkräfte, der die Demokratie erstickt, sondern zunehmend auch um den Niedergang des politischen Systems als solches. Der herrschende Neoliberalismus ist nicht nur darauf aus, die westlichen Gesellschaften in totalitäre Marktgesellschaften zu verwandeln, vielmehr deformiert er auch das politische System bzw. die parlamentarische Demokratieform. Politik- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich seit geraumer Zeit mit diesem Phänomen.

Eine der brillantesten Analysen stammt vom 2015 verstorbenen Sheldon S. Wolin. Er kreierte 2003 den Begriff des Inverted Totalitarianism (deutsch: umgekehrter Totalitarismus): Moderne westliche Gesellschaften, namentlich die in den USA, seien in den Zustand einer »gelenkten Demokratie« übergegangen. (Da weiß man auch, woher Putin den Begriff hat.)

Es ist eine »neue Superorganisation« entstanden, getragen von einer speziellen Allianz zwischen Staat und Konzernen, die versucht, das demokratische Gemeinwesen mittels verfeinerter Herrschaftstechniken zu managen und zu kontrollieren. Die Crux sei, »dass die Macht der Konzerne und ihre Kultur nicht länger externe Kräfte sind, die nur gelegentlich Einfluss auf Politik und Gesetzgebung ausüben«, sondern dass sie integraler Bestandteil der Politik und Demokratie geworden sind. Unter der Hegemonie des Neoliberalismus haben sich große Konzerne des Staates und seiner demokratischen Institutionen bemächtigt. Wenn im Neoliberalismus der Staat zunehmend vom großen Geld manipuliert und kontrolliert wird, geschieht dies verdeckt und schleichend, aber nichtsdestoweniger sehr wirkungsvoll.

Im Kern ist es ein anti-demokratischer Vorgang, der die Demokratie zerstört, während die Gesellschaft für die jeweils herrschenden Eliten lenkbarer wird. Diese gelenkte Demokratie sei nicht das Geschöpf einer Tyrannei, und sie lebe auch nicht von aktiver Unterdrückung, sondern von einer Wählerschaft die zum einen entpolitisiert und zum anderen »derart gleichmäßig gespalten ist, dass sich kein starker Mehrheitswille bilden kann«, so Wolin.

Zwischen kapitalistischer Demokratie und wirklicher Demokratie besteht nach Wolin ein grundlegender (innerer) Widerspruch, der durch die Entwicklung einer »gelenkten Demokratie« verdeckt und unsichtbar gemacht werde. In einer »gelenkten Demokratie« könne die Bevölkerung in ihrem politischen Willen perfekt kontrolliert werden, ohne dass es den Anschein hat, sie würde unterdrückt. Wahlen seien zwar formal frei, das Volk habe aber tatsächlich nicht die Möglichkeit, die Politik und die Ziele des Staates zu ändern.

Zudem werde bereits die Herstellung von Meinungen durch die Medien mithilfe ausgefeilter Techniken der »Kunst der Meinungsmache und der Manipulation« kontrolliert, sodass die Wähler berechenbar geworden seien wie Konsumenten. Und wenn man bereits »den Prozess der Bildung von Meinungen weitgehend kontrollieren kann, ist das Recht auf eine freie Meinungsäußerung für die Macht risikofrei geworden«. Wahlen sind in kapitalistischen Demokratien »zwar formal, nicht jedoch psychologisch frei«, so Wolin. Im postmodernen Kapitalismus werde der Begriff der Demokratie schleichend verschoben – hin zu einer durch »Wahlen legitimierten Form der Elitenherrschaft«. Im Westen herrschen heute totalitäre Postdemokratien.

Der umgekehrte Totalitarismus, so Wolin, setze auf eine weitreichende Entpolitisierung der Bevölkerung und bediene sich zudem weicherer, kaum wahrnehmbarer Unterdrückungsmechanismen. Er entstehe keineswegs zufällig innerhalb der liberalen Demokratie, sondern habe in dieser seine Wurzeln, er entspringe geradezu »aus dem Wesen« des mit dem Kapitalismus verbundenen Liberalismus. Im umgekehrten Totalitarismus enthülle »die liberale kapitalistische Demokratie ihren eigentlichen Wesenskern«. Es handele sich um totalitäre Tendenzen, die in einem grundlegenden Widerspruch zur Leitidee von Demokratie stehen. Wolin zufolge sind liberale kapitalistische Demokratien mit der zivilisatorischen Leitidee von Demokratie nicht in Einklang zu bringen. Denn Demokratie und Kapitalismus als Gesellschaftsformen seien fundamental miteinander unverträglich, weil sie auf geradezu entgegengesetzten Funktionsprinzipien beruhen. Die Demokratie beruhe auf dem Gleichheitsprinzip bei der Vergesellschaftung von Macht. Der Kapitalismus hingegen beruhe in seinen Funktionsprinzipien gerade auf der Ungleichheit des Eigentums an Produktionsmitteln. Der Kapitalismus verlangt also eine Unterwerfung unter Machtverhältnisse, in denen eine Minderheit von Besitzenden Macht über eine Mehrheit von Nichtbesitzenden ausübt und dieses Prinzip vertrage sich nicht mit dem Wesen der Demokratie.

Fazit: Wirkliche Demokratie lässt sich nicht auf der Basis von Strukturen erreichen, die den Interessen des politischen Kapitalismus dienen.

Dieses System hat eine eigene systemloyale Intelligenzija hervorgebracht und kultiviert, die den »totalitären Job«, eine systemkonforme Propaganda, effektiv und smart erledigt. »Durch eine Kombination aus staatlichen Aufträgen, Unternehmens- und Stiftungsgeldern, gemeinsamen Projekten von Universitäts- und Unternehmensforschern sowie wohlhabenden Einzelspendern wurden Universitäten (insbesondere sogenannte Forschungsuniversitäten), Intellektuelle, Wissenschaftler und Forscher nahtlos in das System integriert – ganz ohne Bücherverbrennungen oder Einsteins, die in die Emigration getrieben wurden.« Die neoliberale Intelligenzija dient dem System freiwillig, das heißt ohne physischen Zwang und ohne sichtbare Repression. Aktivisten, namentlich jene, die sich gern im politischen Links-Milieu verorten, sollten sich kritisch fragen, ob sie nicht selbst bereits Teil jener systemloyalen Intelligenzija geworden sind, die den »umgekehrten Totalitarismus« am Laufen hält und an seiner progressiv-neoliberalen Formatierung freiwillig mitwirkt.

Die Entwicklung der Demokratieform im Westen hat zweifelsohne zum zivilisatorischen Fortschritt beigetragen. Wirklich freie Wahlen, faktisch unabhängige Medien und ein funktionierender Rechtsstaat sind wichtige »Errungenschaften«, die das demokratische Gemeinwesen stärken. Aber die liberale Demokratie, wie sie im Westen existiert, ist kein von außen kommendes zivilisatorisches Konstrukt, das die kapitalistische Gesellschaft demokratisch veredelt, sondern eine Demokratie im Kapitalismus und durch diesen geprägt und ausgeformt. Sie ist permanent der Gefahr ausgesetzt, dass sie von mächtigen Korporationen des Kapitals vereinnahmt wird.

Wenn die Demokratie im Kapitalismus erhalten und ausgebaut werden soll, muss man sie gegen Versuche und Tendenzen verteidigen, die darauf aus sind, das demokratische Format zu beherrschen, zu manipulieren und für die eigenen partikularen Interessen zu benutzen. Der erste Schritt auf diesem Weg besteht darin, mit der Verherrlichung der liberalen kapitalistischen Demokratie aufzuhören.

Wer wirklich für die Demokratie (als Herrschaft des Volkes) ist, der hat viele gute Gründe, den schleichenden Verfall der Demokratie und die verdeckten Formen von Totalitarismus aufzudecken und zu bekämpfen, die sich in den liberalen Gesellschaften seit Jahrzehnten so rasant entfalten. Das sollte gerade für die politische Linke eine wichtige Aufgabe sein.

Einige Linke sind unverändert auf Totalitarismus als einem ideologischen Kampfbegriff fixiert, wie er im Kalten Krieg geformt und benutzt wurde. Mit der paradigmatischen Sichtverengung auf »traditionelle totalitäre Systeme« ist allerdings der Blick auf die Analyse jener hochmodernen Formen des Totalitarismus getrübt oder gar verstellt, die sich im Rahmen der bürgerlichen Demokratien vollziehen. Wenn heute Studien wie die der Bertelsmann-Stiftung ermitteln, dass die Demokratie weltweit an Boden verliert und der Trend zu »autoritären Regimes« anhält, dann hat das nicht zuletzt mit jenen »totalitären Entwicklungsdynamiken« (Wolin) in den westlichen Gesellschaften zu tun, die die Demokratie sukzessive aushöhlen bzw. zerstören und dazu führen, dass sich mehr und mehr Menschen von dieser Politikform abwenden. Es fehlt eine politische Vision, eine politische Bewegung, die eine reale, konstruktive Alternative zu diesem »umgekehrten Totalitarismus« bietet. Die Rechten sind es nicht, auch wenn sie es behaupten. Sie sind Teil dieses totalitären Systems und sein Produkt.

Dr. Horst Poldrack, Jahrgang 1950, studierte Philosophie in Leipzig und arbeitete danach an Wissenschaftseinrichtungen in Leipzig, Boston, Moskau, Addis-Abeba, Halle-Wittenberg und Köln. Von 2006 bis 2011 war er als Coach für Führungskräfte in China tätig. Kürzlich erschien im Verlag am Park sein Essayband »Neoliberale Gehirnwäsche«.


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